10 vor 11 vom 24.01.1994
Der vom eigenen Sohn erschlagene Odysseus
Die Odyssee und die Ilias dés Homer beschreiben die Taten und Irrfahrten des Odysseus. Wie aber ist er gestorben? Darüber berichten zwei Tragödien des Sophokles, die mit dem Brand der Bibliothek von Alexandria verloren gingen. Nur Zitate in fremde Werken blieben erhalten. Der Altphilologe und Autor Walter Jens berichtet von den Fragmenten, die Rückschlüsse auf den Tod des Odysseus gestatten: Offenbar hatte das Verhältnis des Odysseus mit der Halbgöttin und Zauberin Circe Spätfolgen. Der Sohn des Odysseus aus dieser Verbindung, Telegonos ("der Ferngeborene") machte sich auf, den geliebten Vater zu suchen. Vom Sturm verschlagen, äußerst hungrig, landete er auf einer Insel und schlachtete Stiere. Diese Insel war aber Ithaka. Odysseus, vom Orakel gewarnt, dass sein Sohn ihn töten werde, hatte seinen Sohn aus der Ehe mit Penelope, Telemachos, (der "Fernkämpfer") in die Verbannung geschickt. Jetzt muss der Held selbst ausrücken, um den Räuberischen Stiertöter, von dem er nicht weiß, dass es sich um seinen Sohn handelt, zu bekämpfen. In diesem Kampf tötet der Sohn den Vater. Im letzten Moment erkennt Odysseus die Stärke des Sohnes. Die Waffe war nämlich das Erkennungszeichen, das er dem Sohn der Circe hinterlassen hatte, ein vergifteter Fischspeer. Walter Jens umgibt diese Geschichtserzählung, die auf fragmentarischen Informationen beruht, mit lebhaften Schilderungen des Charakters des Odysseus, wie sie sich bei James Joyce und bei Franz Kafka finden. Eine merkwürdige Besonderheit des Mythos: In allen Sagen der Antike töten die Söhne die Väter; in den pessimistischen Sagen Germanen und Kelten töten die Väter die Söhne.