News & Stories vom 01.02.1993

Der Tausch Fleisch gegen Grütze

Ortsbeschreibung endgelagerter Konflikte
Vor mehr als 100.000 Jahren, nämlich in Zeiten, aus denen das Skelett von Luzie, unserer Urmutter, stammt, lebten die weiblichen und männlichen Mitglieder der menschlichen Gesellschaft in ursprünglicher Koexistenz. Die allein jagenden Männer brachten Fleisch zu den Orten, an denen die Frauen mit ihren Kindern siedelten, und erwarben sich Sympathien, die der Fortpflanzung dienten. Im Austausch für das Fleisch erhielten sie Körner (Grütze). Wenig später muss eine soziale Katastrophe stattgefunden haben. Sie ist wie ein nuklearer Brennstoff in die Menschheit eingelagert. Diese ursprüngliche Krise, sagt die Filmemacherin Helke Sander, ist der innere Grund für Krieg, sexuelle Gewalt und sprichwörtliche Nichteignung des Menschengeschlechts zu dauerhaftem Glück. Ein Eindruck, der sich nach den Revolutionen in Osteuropa vertieft. Helke Sander, die 32 Filme hergestellt hat, berichtet zu dieser Langzeitwirkung alter Konflikte. Sie beschreibt das "gesellschaftlich Unbewusste". Im Gegensatz zu Sigmund Freuds psychologisch Unbewusstem gibt es für das gesellschaftliche Unbewusste keine Forscher und Analytiker. Die Feministin und Filmemacherin hat mit ihrem dreistündigen Film über Vergewaltigung von Frauen im 2. Weltkrieg und durch ihren neuesten Film über sexuelle Gewalt gegen Frauen im ehemaligen Jugoslawien Aufsehen erregt. Bei endgelagerten Konflikten, sagt Helke Sander, ist es immer folgendermaßen: sie führen ein ewiges Leben, gerade wenn und weil man nicht an sie denkt.